Überlegungen zur deutsch-türkischen Schulpartnerschaft

Die Idee zur Zusammenarbeit mit einer türkischen Schule geht zurück auf eine Klassenfahrt im Schuljahr 2003/2004 nach Berlin. Unsere Schülerinnen und Schüler haben den Islamischen Frauenverein, der in Berlin Bildungs- und Sozialarbeit leistet, besucht. Zu dieser Zeit war das Thema Kopftuchverbot aktuell. Die Schüler sollten - und wollten -  in Erfahrung bringen, wie betroffene Frauen zu dem Kopftuchverbot stehen, sie sollten sich eine Meinung bilden und gleichzeitig in der Lage sein, die Meinung des anderen als ebenso berechtigt anzuerkennen. Es war ein interessantes Gespräch und auf beiden Seiten war man am Ende der vereinbarten Zeit der Meinung, ein solcher Austausch sollte fortgesetzt werden. So wurde die Idee eines deutsch-türkischen Schüleraustauschs und der Partnerschaft mit einer türkischen Schule geboren.

Das Wort Austausch ist dabei in seinem zweifachen Sinn zu verstehen. Zum einen werden unsere Schüler sich austauschen über die eigene Person und über Interessen sowie Arbeitsergebnisse und zum anderen werden wir unsere Schülerinnen und Schüler „austauschen“. Die Schüler werden in den Gastfamilien wohnen, die Partnerschule kennen lernen, gemeinsam arbeiten und das jeweilige Land kennen lernen.

Welche Hoffnungen und Ziele verbinden wir nun damit?

Die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt als gesellschaftliche Realität anzuerkennen, weigern sich viele Menschen sowohl in der Politik als auch in der Bürgerschaft. Die Beeinflussung der Haltung ist gegenseitig. Politiker z. B. verwenden ein Vokabular, das die Ängste der Bürger nährt, der „kleine Mann“ wiederum sucht einfache Lösungen, für die er die Politiker verantwortlich macht. Beide Haltungen gehen mit der Realität nicht konstruktiv um, zu sehr herrscht das Denken vor, das einen Sachverhalt als Problem sieht. Um aber für neue „Probleme“ Lösungen zu finden, darf man nicht in alten Mustern denken.

Es liegt vielleicht in der Natur des Menschen, dass ihm das Neue, Fremde, Ungewohnte Angst verursacht, bedeutet es doch, dass er sich in seiner Sicherheit bedroht fühlt.  Die Bedrohung besteht sowohl in geistig-emotionaler Hinsicht: sein Weltbild gerät ins Wanken – als auch in physisch-sozialer Hinsicht: Angst vor Gewalt, vor Arbeitsplatzverlust. Doch es ist psychologisch unklug, das, was einen bedrückt und ängstigt, zu verdrängen oder außen vor zu halten. Diese Strategie ist für das Individuum verhängnisvoll und für das Kollektiv kann sie katastrophale Auswirkungen haben. Es könnten Konflikte entstehen, die irgendwann mit kriegerischen Mitteln angegangen werden.

In der heutigen Zeit sind die Menschen in vielen Bereichen mit einer Vielfalt konfrontiert, die so zuvor nie bestanden hat: mit einer Vielfalt an Informationen, Meinungen, gesellschaftlichen Gruppen, geistigen Strömungen, kulturellen Ereignissen, Freizeitmöglichkeiten, Lebensmustern und –möglichkeiten, um nur einiges zu nennen. Diese Dinge werden akzeptiert und z. T. als Bereicherung empfunden. Anders dagegen wird von vielen die kulturell-religiös-ethnische Vielfalt  im Land gesehen. In einer globalen Welt, die für die Wirtschaft inzwischen selbstverständlich ist, sollten erst recht die Menschen das Recht haben, da zu leben, wo sie für sich die besten Möglichkeiten sehen. Schon in den vergangenen Jahrhunderten haben viele Menschen das Land ihrer Geburt verlassen um bessere Bedingungen für ihre Existenz zu finden. Damit einher ging für diese Menschen immer auch ein Stück weit die Veränderung ihrer eigenen Identität: sie sind oft zweisprachig und fühlen sich zwei Kulturen verbunden, haben eine alte Heimat und eine neue. Aber auch die Nation wurde durch die Immigranten geprägt. Durch die Anerkennung der Vielfalt entwickelte sich ein neues nationales Selbstverständnis.

Wenn in Deutschland heute von einem Integrationsproblem gesprochen wird, dann ist die Feststellung neu, der Sachverhalt aber schon wesentlich älter und hat eine Ursache in dem Status, der den Migranten zugedacht war. Sie waren Arbeitskräfte und sollten nur für eine bestimmte Zeit bleiben, man war nicht wirklich an ihnen interessiert, sie sollten nicht heimisch werden. Dass die Menschen außer ihrer Arbeitskraft auch ihre Kultur mitbrachten, wirkte befremdlich und bedrohlich, fürchtete man doch den Verlust der eigenen Identität. Erst allmählich beginnt die Politik Deutschland als ein Einwanderungsland zu begreifen und damit die gesellschaftliche Realität anzuerkennen. Auch bei den Migranten z. B. aus der Türkei bestehen Vorbehalte, Ängste und die Sorge um den Verlust der Identität. Die aktuellen Abschiebeaktionen (das Wort lässt Rückschlüsse zu auf den Status, den die betroffenen Menschen hier haben) zeigen, dass man in der Politik noch immer nicht die Zeit begriffen hat. Alte Konzepte werden praktiziert in einer Welt, die ganz neue Herausforderungen stellt.  Mit den Menschen, die nach Deutschland kommen, kommt auch ein Potential ins Land, das als Herausforderung, als Bereicherung, als Chance begriffen werden muss. Ein Perspektivenwechsel ist nötig, der den Blick auf das Positive richtet. Kreatives Denken und Handeln ist erforderlich, um aus diesem Potential eine Bereicherung für das Gemeinwesen und den Staat zu entwickeln. Es handelt sich bei den Menschen, die nach Deutschland kommen im allgemeinen um Menschen, die in hohem Maße bereit sind, ihr Leben zu gestalten. Sie zahlen oft einen hohen Preis dafür (in manchen Fällen auch im wörtlichen Sinne) um nach Deutschland zu kommen. Es ist das Gebot einer humanitären, demokratischen Gesellschaft, den Menschen Chancen zu geben. Sie sind Teil einer Gemeinschaft und was sie leisten wird sich im Guten wie im Schlechten auf die Gemeinschaft auswirken. Der Staat darf es sich nicht leisten, bestimmte Menschen  aus der Gesellschaft auszugrenzen, weil sie  Angehörige einer bestimmten Ethnie, Religion und Kultur sind und/oder sonstige Gruppenmerkmale besitzen.

 In einer komplexen Gesellschaft sind auch die „Probleme“ komplex, und dass es einfache Lösungen gibt darf bezweifelt werden. Im Privaten zeigt sich, dass oft ein „Problem“ verschwindet, wenn man die Sicht auf den Sachverhalt, der das „Problem“ darstellt, verändert. Wenn man den Blick auf das Positive richtet, verändert sich die Wahrnehmung. Wenn man sich die Frage stellt,  „Was hat es Positives?“, erscheint die Sache in einem neuen Licht. Diese Strategie, die im Privaten als Lebenshilfe gepriesen wird, in Unternehmen zu effektiverer Arbeit führt, könnte doch auch für ein Gemeinwesen nützlich sein. Für den Staat hieße das, zu einem konstruktiven Umgang mit der heterogenen Gesellschaft zu finden. Dazu gehört z. B. die Gruppen selbst in die Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Viele Gruppen drängen bereits an die Öffentlichkeit und stellen ihre Forderungen an den Staat, diese einzubinden in Denk- und Entscheidungsprozesse und ist erforderlich.

 Der Umgang mit der Vielfalt, die mit den Menschen einer anderen Ethnie zusätzlich ins Land gekommen ist (und kommt), muss bewusst gesehen werden und es müssen Möglichkeiten gefunden und geschaffen werden, damit konstruktiv umzugehen. Die moderne Gesellschaft, deren Kennzeichen eben die Vielfalt ist, muss bewusst gestaltet werden auf der Grundlage der Menschenrechte und den sich daraus ableitenden Gesetzen der einzelnen Staaten und Gemeinschaften. Die geltende Rechtsnorm muss der Realität angepasst werden im Sinne des Gemeinwohls und des (sozialen) Friedens.

 Voraussetzung dazu ist ein weitreichender Dialog. Es muss zum einen ein Dialog in der Gesellschaft vertikal stattfinden. D. h. die Entscheidungsträger müssen wissen, was die Menschen im Land denken und was sie bewegt. Diese sind an Entscheidungsprozessen oft nicht beteiligt und haben resigniert (Politikverdrossenheit). Dieser Dialog könnte die Motivation zu mehr politischem Engagement fördern. In des jetzigen Strukturen findet der Austausch nicht umfassend genug statt. Zum anderen ist der Dialog in der Gesellschaft horizontal notwendig: Die Menschen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen müssen miteinander in Kontakt kommen, damit die unterschiedlichen Vorstellungen und Weltbilder ausgetauscht werden können. Das geschieht nicht in einem Klima des Misstrauens und der Angst, sondern in einem Klima von Offenheit und Interessiertheit. Ein neuer Prozess politischer, geistiger und kultureller Entwicklung käme in Gang. Eine Annäherung könnte stattfinden, die das Trennende nicht aufhebt, sondern die geprägt ist von dem Bewusstsein, dass das jeweils Andere seine Existenzberechtigung hat. Die Vielfalt anzuerkennen und als Teil der modernen Lebensbedingungen zu betrachten könnte auch als innerer Reichtum erfahren werden.  Der Dialog zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern sowie der innergesellschaftliche Dialog bedeuten auch eine Verwirklichung von mehr Demokratie und Offenheit.

 Eine Nation definiert sich vor allem über geistig-kulturelle Werte und Einstellungen und ist von daher auch wandelbar. Beispielsweise ist die Akzeptanz der Verantwortung aufgrund der Geschichte für viele Deutsche ein Teil ihres Nationalgefühls geworden. Ebenso können sich andere Werte etablieren, die eine Gemeinschaft als Nation definieren und in welcher der Einzelne sich der Nation zugehörig fühlt. Solche Werte könnten sein: Offenheit, Kritikfähigkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Engagement, Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, Eigenverantwortlichkeit, Bildung, Individualität und Gemeinsinn ... .

 Die Initiatoren des Projektes möchten mit ihrer Arbeit dazu beitragen, dass ein Umdenken stattfindet und neue Perspektiven erkannt werden,  dass sich der Blick öffnet für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Türken und Deutschen. Diese Unterschiede sollen nicht nur wahrgenommen sondern auch anerkannt und als gleichwertig und gleichrangig akzeptiert werden. Die Schüler und auch die teilnehmenden Kollegen sollen mit dazu beitragen Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen zu verhindern. Sie sollen sensibilisiert werden für die positiven Aspekte, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen mit sich bringt. Von dem Projekt, dem zweiten im Rahmen des europäischen Comenius-Programms mit unserer Partnerschule in Izmir, sollen Impulse ausgehen für die Entwicklung neuer Einstellungen im oben dargestellten Sinn.